Linda Troeller zum Thema „Weiblicher Blick“

MARION: Linda, meine Frage ist: Glaubst du, dass es so etwas wie einen männlichen und einen weiblichen Blick gibt?

LINDA: Ja, ich denke schon.

MARION: In welcher Hinsicht?

LINDA: Ich bin mir nicht sicher, ob wir damit geboren sind oder es in unseren Genen haben. Da ich nie ein Kind hatte, kann ich nicht viel über das frühe Leben sagen. Aber ich fühle absolut, dass es sich entwickelt. Sobald wir unsere eigenen Erfahrungen haben und uns an visuelle und akustische Informationen erinnern, denke ich, beginnen wir auch, eine bestimmte Sicht anzunehmen, die festlegt, wie wir die Welt sehen.

MARION: Und warum denkst du, dass es einen männlichen und einen weiblichen Blick gibt?

LINDA: Ich kann nur von meiner Erfahrung ausgehen – besonders von der einer Künstlerin, einer Fotografin. Als Reaktion auf meine frühen Arbeiten mit der Kamera haben mir sehr oft Männer gesagt: „Oh, du scheinst einen weiblichen Blick zu haben, eine weibliche Vision. Du benutzt Farben. Ich hätte es nicht so gemacht.“ – „Ich hätte dies nicht getan, ich hätte das nicht getan.“ Nicht in Bezug auf alle Themen – ich denke schon, dass es auch Dinge gibt, bei denen Männer und Frauen eine ähnliche Sichtweise haben. Es gibt nicht wirklich einen Standard, nach dem es immer so oder so ist.

MARION: Was sind Deiner Meinung nach die Themen, bei denen es verschiedene Sichtweisen gibt?

LINDA: Sicherlich beim Fotografieren von Frauen und beim Interpretieren von weiblichen Gefühlen und Empfindungen. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass eine Menge Arbeiten, die ich gemacht habe –  so wurde mir gesagt – eine Weiblichkeit oder Feminität haben. Wenn das Thema aber ein bisschen breiter wird oder an Archetypen heranreicht, die sowohl Männer als auch Frauen verstehen, dann verlässt es diese Zone.

MARION: Welche Arten von Archetypen?

LINDA: Ich würde sagen bei Landschaften oder Abstraktionen, in der Architektur. Bei diesen Bildern bin ich mir nicht so sicher, ob es einen visuellen Unterschied oder eine andere Sichtweise gibt. Ich denke, wenn es um Verhalten geht, um soziales Bewusstsein, Spiritualität, dann gibt ist die Göttin des Geistes. Wenn es sich um Themen handelt, die durch alle Kulturen hindurch als weibliches Thema behandelt wurden, dann gibt es einen Dialog gibt, einen Unterschied.

MARION: Meine nächste Frage ist: Glaubst Du, dass es so etwas wie weibliche und männliche Kunst gibt? Oder gibt es nur eine Kunst?

LINDA: Nun, zum Beispiel: Ich denke, dass die Feministinnen in den 70er Jahren, Judy Chicago und eine ganze Reihe anderer Frauen, darauf hinwiesen, dass es weibliche Kunst gibt. Sie nahmen sich Vaginas und Körperteile vor, die in der zeitgenössischen Kunst nie wirklich erforscht worden waren, und machten daraus ein eigenes Thema. Die Antwort auf die Frage ist Ja. Man weiß, dass die Göttinnen Indiens mit ähnlich klitoralen Bilder in den Klöstern abgebildet waren und diese Gegenstände besaßen, die vor Jahren gemacht wurden. Aber als ich in den 1960er und 70er Jahren in die Kunstwelt eintrat, waren männliche Kuratoren verantwortlich. Sie waren die Tugendwächter, was Kunst war und was nicht. Also antworteten die Frauen dieser Zeit mit den Worten: „Das ist unsere Kunst. Dies ist die Vision einer Frau. Das ist unsere zeitgenössische Ästhetik.“ Seit der Frühzeit wurden Göttinnenbilder und dergleichen Darstellungen von Männern und Frauen gemacht. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass in frühen Kulturen Männern wahrscheinlich das Recht zugestanden wurde, dies zu tun.

MARION: Du sagst, damals, in den 60ern und 70ern, waren die Kuratoren hauptsächlich Männer. Haben sich die Dinge jetzt geändert?

LINDA: Ich denke, wir haben ein breiteres Spektrum. Tatsächlich wissen die jungen Leute von heute nicht, wie die Befreiungsbewegung der Frauen wirklich war. Für sie ist es unglaublich, denn sie haben das Recht zu sein, wer sie sein wollen. In den 50er und 60er Jahren hingegen war eine Frau eine Mutter und zu Hause. Wenn sie sich künstlerisch betätigten – und sie konnten Malerinnen sein,  es gab einige -, ging das nur im Einklang mit der Familie. Aber sich in der Öffentlichkeit wirklich als Künstlerin auszurufen, war sehr schwierig. Es ist wirklich interessant: Ich habe die Biographie von Alice Neal gelesen. Sie gilt in Amerika zurzeit als eine der führenden Künstlerinnen. Und sie lebte ein sehr freies Leben.

In den 60ern und 70ern verließ sie ihre Heimat in North Carolina oder irgendwo im Süden und zog nach Greenwich Village, wo die Beatniks lebten. Sie führte ihre Art von Leben, aber erst mit Ende 60 wurde sie entdeckt. Die Bilder, die sie in ihrem Haus hatte, wurden als eine Vision, eine besondere Vision, betrachtet. Das war zu Beginn der 70er Jahre, als die Frauenbewegung Gestalt annahm. Sie wurde berühmt als eine Art Vorbild für die Art, wie sie Menschen sah und für die Art von Menschen, die sie malte. Weißt du, niemand wollte diese Bilder kaufen. Ja, ein paar Verkäufe gelangen ihr mithilfe von ein paar Kuratoren, aber im allgemeinen lebte sie in Harlem und machte Porträts von armen Leuten, von schwulen Leuten – wer auch immer sie faszinierte. Und letzteres Thema galt weder für einen Maler noch für eine Malerin als angemessen. Sie hat man als die feministische Vision definiert. Ich glaube, es ist wohl wahr, dass zum ersten Mal in der Geschichte diese Art von Arbeit anerkannt wurde. Gibt es noch Tugendwächter? Es gibt immer noch viele männliche Exemplare, und viele schaffen es immer noch nicht in die Kunstwelt. Es gibt jedoch viel mehr weibliche Tugendwächter, die neue Gedanken in unsere Kultur bringen können.

Auf dem Foto zu sehen ist die Fotografin Linda Troeller.

Das Interview wurde geführt von Marion Schneider.